Mein Bruder und Ich

Erinnerungen von Marianne Decker

Marianne Decker (21.06.1919 bis 22.02.1984), geb. Wunderlich, hat wunder­schöne Erinnerungen über ihren Bruder Fritz Wunderlich aufgeschrieben, der heutzutage als einer der größten Tenöre aller Zeiten angesehen wird.

Diese Niederschrift liegt leider nur als einfacher Text vor. Er wurde von der Fritz-Wunderlich-Gesellschaft zur Verfügung gestellt.

Ich habe versucht, diesen Text aufzubereiten und mit Fotos zu ergänzen.

Marianne__Fritz_und_Anna

Im Text wurden keine wesentlichen Veränderungen vorgenommen. Lediglich wurde das Wort mein generell durch die Pluralform unser ersetzt, wenn es sich auf Marianne Decker und Fritz Wunderlichs Eltern bezog, um dem Titel „Mein Bruder und ich“ gerecht zu werden.

Die Fotos stammen aus verschiedenen Quellen, teilweise von der Autorin selbst. In diesem Zusammenhang gilt mein besonderer Dank:

– Herrn Piet Boers
– Herrn Fred Scharf
– und der Fritz-Wunderlich-Gesellschaft

Leider konnten nicht immer authentische Fotos gefunden werden. Deshalb wurden auch neuere Fotos eingefügt. Alle schwarz-weiß Aufnahmen sind historische Bilder, die Farbfotos sind in den letzten Jahren entstanden. Vielleicht stellt auch der Kontrast von einem ¾ Jahrhundert interessante Vergleichsmöglichkeiten dar.

Ich hoffe, durch diese Aufbereitung der Erinnerungen von Marianne Decker einem noch größerem Publikum diesen hochinteressanten Text anschaulich zugänglich gemacht zu haben.

Arno Brijoux,
Lünen, im März 2009

Vorwort

Wenn ich – als seine Schwester – über Fritz Wunderlich schreibe, dann in erster Linie nur deshalb, weil ich oft von Menschen, die ihn noch immer verehren, gefragt werde: „Wie war er, wie lebte er, bevor er als berühmter Sänger auf der Bühne stand?“

Ich kann verstehen, daß man sich ein möglichst vollkommenes Bild von ihm machen möchte, nicht unbedingt der Neugierde wegen, sondern ganz einfach: Man hatte ihn liebgewonnen und ins Herz geschlossen.

An dieser Stelle möchte ich unterstreichen, daß mir nichts daran liegt, selbst populär zu werden; ich möchte lediglich seinen Verehrern ein Geschenk machen und von dem Fritz Wunderlich erzählen, der mir seit seiner Geburt in Erinnerung geblieben ist.

Hätte ich den Titel eines Buches über ihn zu wählen, wäre es dieser:

Horch, die Lerche singt im Hain!

Warum? – Man wird es beim Lesen dieser Biographie erkennen.

Marianne_Decker

Marianne Decker, September 1980.

26.September 1930 - der Geburtstag meines Bruders Fritz

Unsere Eltern waren gerade (die 20er Jahre, eine schlimme Zeit) nach Kusel gezogen. Zuvor waren sie als Berufsmusiker in guten Cafés und Kinos angestellt. Besonders Caféhäuser, die Wert darauf legten, ihren Gästen gute Unterhaltung zu bieten, engagierten deshalb nur Musiker, die wirklich gutes Können bewiesen. Die Konkurrenz war groß, und man mußte da schon etwas Zufriedenstellendes leisten.

Unsere Mutter – im Erzgebirge geboren – ging nach guter Ausbildung als Geigerin bereits im 14. Lebensjahr mit einer Damenkapelle ins Ausland. Dort wurde ebenfalls gute Caféhausmusik gepflegt. Sie bereiste u.a. Griechenland, Rußland, die Türkei, Jerusalem, kurzum – fast die halbe Welt. Während dieser Zeit reifte sie zur Violinsolistin heran und gründete eine eigene Damenkapelle, die sehr beliebt wurde.

Vater, ein echter Thüringer, war während des Krieges 1914 bis 1918 Militärmusiker. Nach dem Krieg leitete er in Mühlhausen i. Th. eine große Militärkapelle. Später war er Dirigent der Stahlhelmkapelle, die sich aus Musikern der Militärkapelle zu­sam­men­setzte.

Nach ihrer Heirat taten die Eltern sich zusammen und gründeten ein eigenes Salonorchester. Es war bald sehr gefragt und bekam viele Engagements.

Fritz_Wunderlichs_Geburtshaus

Die Technik: Radio und Tonfilm machten über Nacht fast alle Berufsmusiker arbeitslos. So führte uns der Weg nach Kusel: Eine Zeitungsofferte, in der eine Gastwirtschaft und ein Kino zur Pacht angeboten wurde, war die Ursache. Für unsere Eltern war dies das Angebot schlechthin. So konnten sie sozusagen ihrem Beruf treu bleiben. Radio und Tonfilm waren im Anfangsstadium ihrer Erfindung und daher in Kusel den Eltern ja noch keine Konkurrenz. – Ihr Musizieren im eigenen Haus wurde so beliebt, daß die Gäste samstags und sonntags kaum Platz fanden. Vater spielte Cello, Mutter Violine; eine Pianistin wurde engagiert, und man konnte die Gäste mit Violin- und Cello-Soli begeistern.

So wäre eigentlich alles in bester Ordnung gewesen, wenn nicht die politischen Wirren der Jahre 1930 bis 1933 das ihrige dazugetan hätten, alles Schöne zu zerstören.

Trotz alledem ließ sich unser Vater die Freude über die Geburt seines Sohnes nicht nehmen und hängte am Morgen des 26. Septembers 1930 ein Schild an die Tür der Gastwirtschaft mit der Beschriftung:

„Fritzchen ist heute angekommen. Wirtschaft geschlossen!“

Es wurde eine ganze Nacht hindurch mit Freunden gefeiert, und somit begann das Erdenleben meines Bruders, das tüchtig begossen wurde.

Hinweistafel an Fritz Wunderlich Geburtshaus

Kindheit

Aber das Leben ging weiter und mußte in den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen der damaligen Zeit durchlebt werden. Wäre das Musizieren der Eltern nicht gewesen, hätte in Kusel an den Wochenenden – außer oftmals schlimme Schlägereien, die meist politischer Ursache entsprangen – kaum Erfreuliches stattgefunden.

Vater studierte mit Laienspielern ein paar Operetten ein. Er war ein guter Musiker, der die Harmonielehre außerordentlich gut beherrschte. Er konnte daher für das Orchester sämtliche Noten für die entsprechenden Instrumente mittels Klavierstimme schreiben. Auf diese Weise sparte man viel Geld hinsichtlich Notenkaufs, und für die Gesellschaft in Kusel wurde durch die Operettenaufführungen ein großer Beitrag geleistet.

In dieser Atmosphäre wuchsen wir Kinder auf. Ich wurde im Klavierspiel ausgebildet und musizierte fleißig mit den Eltern. Fritzchen (10 Jahre jünger) war ein kleiner Kobold, dem man oft aus dem Weg gehen mußte. Er war voller Ideen, wie und was man alles anstellen kann.

Ja, ja – das Fritzchen! – Ich glaube, sein erster Atemzug enthielt schon das energische Wollen, alles, aber auch alles, was es auf dieser Welt zu erforschen gibt, zu ergründen. So mußte u.a. meine schöne Puppe, die eine Perücke von Haaren unserer Mutter hatte, dem Forscherdrang geopfert werden, indem er der Puppe den Kopf zerschlug um herauszufinden, warum ihre Augen immer auf und zu gingen. Mein von mir so sorgsam gehüteter Teddybär, der eine Brummstimme hatte, mußte seine Eingeweide lassen, damit die Ortung der Töne vollzogen werden konnte.

Unsere große Standuhr – Mutter hatte vergessen, den Verschluß der Tür zuzumachen – war ein gefährliches Ziel seiner Erkundungsreise. Er stieg hinein und fiel mit der Uhr um. Wir hörten den Aufprall, eilten in das obere Stockwerk, wo die Uhr stand und sahen sie mit zerbrochener Scheibe auf dem Boden liegen. Etwas erschrocken krabbelte mein Bruder heraus, sah die Scherben und jammerte immerzu: „Die Dante is but.“ – Wir hingegen waren heilfroh, daß die schweren Gewichte ihn nicht erschlagen hatten.

Seine Neugierde schwarzer Schuhcreme gegenüber und was man damit machen könnte, verleitet ihn dazu, sich damit den ganzen Kopf einzureiben, und unsere Mutter hatte ihre liebe Not, ihn wieder sauber zu bekommen.

In der Gastwirtschaft stand ein Billardtisch. Man mußte einen Groschen hineinwerfen, um mit den Kugeln spielen zu können. Der Dreikäsehoch von ca. zweieinhalb Jahren reichte mit der Nasenspitze kaum bis an die untere Kante des Ausschankbüffets, zog die Schublade auf und stibitzte sich die Groschen für das Billard – das rein gefühlsmäßig, da er ja nicht die Schublade mit der Tageseinnahme einsehen konnte. Dann kletterte er auf einen Stuhl, nahm einen der Billardstöcke, steckte seinen Groschen in den dafür vorgesehenen Schlitz und spielte so geschickt mit den Kugeln, daß es ein Vergnügen war, ihm dabei zuzusehen. Mit großer Feinfühligkeit schob er den Billardstock durch die Finger der linken Hand und balancierte die Kugel zielsicher in die Löcher des Billards. Vor lauter „Spielandacht“ entstanden dann unter ihm auf dem Stuhl kleine Pfützen. Als Mutter ihm die Geldquelle zusperrte, stopfte er „rachedurstig“ heimlich sämtliche Kugellöcher mit allem möglichen, von ihm auffindbaren Material zu. Wollte ein Gast spielen, mußte der Tisch total auf den Kopf gestellt werden, um die Löcher wieder freizumachen.

Die Möglichkeit, seine Stimme recht früh entfalten zu können, gab ihm der damals in Kusel stationierte Arbeitsdienst. Die Männer marschierten jeden Mittag im 12 Uhr an unserer Gastwirtschaft vorbei, um in einem Schulgebäude ihr Essen im Empfang zu nehmen. Um diese Zeit saßen wir meistens in der Küche beim Mittagessen und hörten die Kolonne schon von weitem singen. Fritzchen hörte sie immer als erster. Er warf seinen Löffel fort, rutschte vom Stuhl und rannte durch die Küche und den Wirtschaftsraum auf die Straße. Dort wartete er, bis die Männer kamen. Dann marschierte er neben oder vor dem Kolonnenführer her und schmetterte in den reinsten Tönen das Lied der Arbeitsdienstmänner mit. Den Text, den er sich selbst zusammenreimte – er konnte ja noch nicht richtig sprechen -, war folgender: „Da wa sin sun die strate, arra vittoria.“ (übersetzt: „Und so zieh’n wir uns’re Straße, hurra viktoria.“)

So begann also sein erster „großer Auftritt“ als Sänger – nur: Der Weg nach oben war noch weit.

Wohnungswechsel

Die Zeit verging. – Tat sie dies überhaupt? Arbeitslosigkeit, verirrtes ideologisches Denken, Macht­hunger und die daraus entstandenen Konsequenzen – wir alle waren davon betroffen. (Erleben wir nicht jetzt wieder die Fortsetzung von alledem, jetzt, als sei nichts, aber auch gar nichts geschehen?)

Unsere Eltern mußten Gastwirtschaft und Kino aufgeben. Die Einnahmen brachten meist nicht einmal die erforderliche Summe für die Pacht ein, die die Brauerei als Besitzerin des Anwesens verlangte. Die Besucherzahl des Kinos ging zurück. Es gab noch einen zweiten Kino­besitzer in Kusel, der bessere Beziehungen zu den Filmverleihanstalten hatte und somit die zugkräftigen Verträge abschließen konnte. Vater und Mutter waren nicht gewohnt, sich skrupellos durchzuboxen. Sie ver­schul­de­ten sich gegenüber der Braue­rei und bekamen sogar Möbel gepfändet. – Wir zogen in ein kleines Mietshäuschen, das neben einer Schlosser­werk­statt gelegen war.

Haus in der Schwebelstrasse

Unsere Eltern, die beide an der Musikhochschule in Kassel ihre Prüfung als Musiklehrer abgelegt hatten, betätigten sich nun als Privatmusiklehrer, und der Zuspruch war groß. Schüler aus dem ganzen Kreis Kusel nahmen Unterricht in musikalischen Fächern und etlichen Instrumenten; und so war eigentlich die finanzielle Sorge gemildert.

1933 – Hitlers Machtergreifung. – Alles wurde umorganisiert, vieles sollte besser werden. Was soll ich weiter darüber berichten – die Chronik des Dritten Reiches ist bekannt.

Unser Vater wurde auf Grund seiner Zeugnisse und Kenntnisse von der neu gegründeten Reichsmusikkammer zum Leiter und Gründer eines sogenannten Wertungsorchesters bestimmt. Alle Berufsmusiker des Kreises Kusel und darüber hinaus wurden registriert und sollten bei öffentlichen Veranstaltungen bevorzugt eingesetzt werden. Es gelang Vater auch, ein großes Streich- und Blasorchester zusammenzustellen. Er hatte als dessen Dirigent schönen Erfolg.

Leider hatten einige weniger begabte Laienmusiker keinerlei Verständnis für die Anordnungen unseres Vaters, und der Neid ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Der Leiter der SA-Kapelle und ein Lehrer der Volksschule, der auch den Musikverein kurze Zeit dirigierte – beide waren intensive Parteifunktionäre der NSDAP -, setzten alles daran, Vaters Tätigkeit zu unterbinden.

Die Diffamierungen ihm gegenüber wurden noch schlimmer, als er eine Anstellung als Musiklehrer am damaligen Pro-Gymnasium in Kusel bekam. Wahrscheinlich war auch seine Dirigententätigkeit in der Stahlhelmkapelle, die er nach dem ersten Weltkrieg in Mühlhausen i. Th. geleitet hatte, bekannt geworden; und der Umstand, daß in einem Nebenraum der Gastwirtschaft, die unsere Eltern vor 1933 bewirtschafteten, das Parteibüro der SPD eingemietet war, beleumundete ihn als dieser Partei zugehörig. Ich weiß, daß Vater und Mutter nie politisch engagiert waren. Sie hielten sich konsequent jeder politischen Tätigkeit fern; und trotzdem: Wer sucht, der findet!

So wurde unser Vater von Spitzeln beobachtet. Wenn er zum Beispiel den uns aufgezwungenen „Heil-Hitler-Gruß“ nicht erwiderte oder einer Fahnenabordnung nicht die Ehre erwies, diese mit erhobener Hand mit „Heil-Hitler“ zu grüßen, schickte man ihm die Polizei ins Haus. Die ganze Familie mußte unter diesen Schikanen sehr leiden. Hinzu kam die Schwerkriegsbeschädigung unseres Vaters. Durch einen Bauchschuß hatte er keine Bauchdecke mehr und mußte Tag und Nacht eine harte Bandage tragen. Das Versorgungsamt Landau quälte ihn förmlich mit Kontroll­untersuchungen. Schließlich war unser Vater am Ende seiner Nervenkraft. Er starb im Herbst 1935.

Bild vom Haus am Holler

Ich möchte noch erwähnen: Die NSKOV (Nationalsozialistische Kriegsopferversor­gung) ver­gab das Gelände der bis dahin unbebauten Gemarkung „Holler“ – am Stadtrand Kusels gelegen – zur Bebauung kleiner Siedlungs­häuser. Auf Grund günstiger Darlehensbedingungen und in Gemein­schafts­arbeit mit anderen Siedlern begannen unsere Eltern mit dem Bau eines solchen Hauses. Nach dem Tod unseres Vaters mußte unsere Mutter den Bau nun allein beenden. Sie bekam nur eine kleine Witwenrente von lediglich RM 89,00. Und wenn auch die Preise für Lebensmittel und vieles andere damals wesentlich niedriger waren als heute, so mußte an allem gespart werden. Ich habe unsere Mutter stets bewundert, wie sie dennoch mit uns Kindern aller Not trotzte.

Wie wenig Verständnis hatte ich oftmals als junges Mädchen, da sie mir vieles versagen mußte, was man sich in diesem Alter so gern wünscht. Und ich habe sie später in manch stiller Stunde um Verzeihung darum gebeten.

Dennoch – Mutter nahm mit ihrem resoluten Wesen das Leben energievoll in Angriff. Sie unterrichtete anstelle unseres Vaters am Pro-Gymnasium, gab Privatunterricht und spielte bei Tanzveranstaltungen in Kusel und benachbarten Dörfern mit anderen Musikerkollegen als Geigerin. Auch ich war oft dabei, spielte Klavier. Und wenn man bedenkt, daß wir keine Elektronik zur Verfügung hatten, – wie diese den heutigen Unterhaltungsmusikern Kraft erspart – ganz abgesehen von der Möglichkeit, besondere Effekte erzielen zu können -, war das damals Schwerstarbeit.

Wir spielten meistens drei Tage hintereinander – was die Kirmesfeste ( Kerwen ) der Dörfer betraf -, von nachmittags bis spät in die Nacht hinein. Unseren Tätigkeitsort mußten wir zu Fuß, mit dem Pferdefuhrwerk, dem Zug und nur ganz selten mit dem Auto erreichen. Nachts – von der Tretmühle des Tanzmusikspielens ausgelaugt – waren wir oft gezwungen, todmüde nach Hause zu laufen. Mutter lief einmal ganz allein von einem benachbarten Ort nachts gegen drei Uhr heim. Mit der Geige im Rucksack auf dem Rücken durchquerte sie unerschrocken ein Stück Waldweg. Ihre harte Natur allen Wettern zu trotzen, die Erzgebirglern eigen ist, bewährte sich immer wieder.

Bild mit Fritz Wunderlich als Kind auf dem Schlitten

Mein Bruder – nun im fünften Lebensjahr – bekam in kindlicher Unbekümmertheit nicht viel von all dem Schweren mit. Er war immer voll von Fröhlichkeit und Zufriedenheit und konnte sich aus jedem Strohhalm eine Lanze machen, aus jedem Sandhaufen ein Schloß bauen. Er half sogar der Mutter beim Geigenunterricht, indem er den Schülern am Klavier die Töne zum Einstimmen der Instrumente angab.

Trotz aller Mühsal zeigt unsere Mutter uns Kindern gegenüber nie den Kummer ihres Herzens. Sie war eine strenge, aber auch gütige Monarchin unserer kleinen Familie. Ihr Einfluß in manch komplizierten Situationen, in meinem, wie auch meines Bruders Leben, war von helfender Wichtigkeit.

Ab 1937 lebten Mutter, Bruder und ich im endgültig fertiggestellten Siedlungshaus: Küche, ein großes Wohnzimmer (das eigentlich zwei Zimmer werden sollte, unser Vater ließ dies gleich beim Bauplan so anordnen), im oberen Stockwerk zwei Schlafzimmer, im Keller eine Toilette; außerdem waren ein Schweine- und ein Hühnerstall eingeplant. Es war Bedingung der NSKOV, Vieh zu halten. Unsere Mutter bewährte sich also neben ihrer musikalischen Tätigkeit auch noch als Landwirtin.

Warum ich an diese Stelle unsere Wohnung so genau beschreibe, hat folgenden Grund: Kammersänger Hermann Prey hat in seinem Buch „Premierenfieber“ nämlich behauptet, er sei mit meinem Bruder in Kusel gewesen. – Herr Prey war niemals in Kusel! Er hätte dann ja wohl unserer Mutter begegnen müssen. Er lernte meinen Bruder 1959 kennen; da lebte unsere Mutter noch. Und Fritz verleugnete seine Angehörigen vor niemandem.

Herr Prey schilderte unser Haus als kleines Bergarbeiterhäuschen, die Innenwände seien nicht verputzt gewesen, in das obere Stockwerk – also zu Fritz’s Zimmer – hätte eine Stehleiter hinaufgeführt (anstelle einer Treppe), ein altes Holzbett, ein wackeliger alter Tisch mit Blechschüssel und Blechkanne seien die Einrichtung gewesen.

Unser Haus war – den zeitlichen Verhältnissen entsprechend – stets in Ordnung. Die Wände waren verputzt, und die Treppe war eine normale Holztreppe, wie sie in jedem anderen Haus zu finden ist. In den oberen Räumen stand älteres Mobiliar. In einem der Zimmer hatte sich Fritz damals eine Fotolaborkammer eingerichtet. Es war also – heute würde man sagen – sein „Hobbyraum“. Bis 1963 – mein Bruder hatte bereits sein eigenes Leben aufgebaut – wohnte Mutter allein. Nach ihrem Tod – 1963 – zogen mein Mann und ich mit unserem jüngsten Sohn sofort in das Siedlungshäuschen ein. Und es ist einfach unmöglich, Herrn Prey übersehen zu haben. Fritz hatte uns nie einen Besucher, den er mit nach Kusel brachte, vorenthalten; das war nicht seine Ge­wohn­heit.

Schulzeit

Bild mit Fritz Wunderlich im Garten

Zurück zu Fritz, als er noch in Kusel daheim war. – Für ihn war das Leben zwischen Hühnern, dem Schwein, was Mutter aufzog, ebenso der große Garten und vor allen das bis dahin noch wenig bebaute Hollergelände ein seliges Paradies. Dem Haus gegenüber war freies Wiesengelände, es reichte bis zum nahegelegenen Wald. Ein kleiner Tennisplatz, umgeben von hohen Tannen, war der Ort, wo er sich oft bis zur Dunkelheit mit seinen Spiel­kameraden tummelte. Mit Wonne spielte er Fußball, oft bis zur Auflösung alter, leider auch neuer Schuhe. Wenn er später, während seiner Studienzeit, nach Hause kam, standen seine Fußballkumpels in treuer Erwartung vor der Haustüre.

Kaum daheim, suchte er sich seine geliebten alten „Klamotten“ zusammen und: ab ging die Post – zum Tennisplatz. Mutter schimpfte oft mit ihm, denn sie hätte doch gern zuerst mit ihm allein über dieses und jenes reden wollten. Sein charmeurartiges Beschwichtigungsverfahren, das er anwand­te, wenn sich jemand über ihn ärgerte, brachte jedoch jede unangenehme Situation wieder ins Gleichgewicht.

Gleich nach Schulabschluß war ich als Bürolehrling bei der Krankenkasse beschäftigt. Mir gefiel die trockene Büroarbeit nicht, die ich dort verrichten mußte. Als „unruhiges“ Musikerkind, wie ich es auch war, konnte ich in dieser Arbeit keine Befriedigung finden.

1937 heiratete ich und zog mit meinem Mann in dessen Elternhaus. Ich war noch sehr jung. Mutter war zwar traurig, daß ich sie so früh verließ, aber wir wohnten ja nicht weit voneinander entfernt und konnten uns fast täglich sehen. Zudem war mein Mann ihr eine große Hilfe bei Gartenarbeiten und Reparaturen am und im Haus.

Mein Bruder lebte nun mit Mutter allein im Häuschen, und ich glaube, dies war gut so. Beide waren ein Gespann, das gut zusammen harmonierte. Sie wurden von niemandem und durch nichts in ihrer einfachen Lebensweise gestört. Fritz konnte sich unter der geduldigen Aufsicht der Mutter frei und ungehemmt – seinem Wesen entsprechen – entfalten. Die Lebensreife, die ihr durch harte Erfahrungen seit frühester Jugend anerzogen war, half ihm, fast die Schulbildung zu ersetzen, war sie doch schon vierzig Jahre alt, als Fritz geboren wurde.

Bild mit Fritz Wunderlich

Fritz sah die Schule als ein notwendiges „Etwas“ an. Seine angeborene Begabung für die musischen Fächer trat konsequent in den Vordergrund.

Herr Oberstudienrat Dr. phil. J. Gerlach, der nach Kriegsende als Lehrer am Gymnasium in Kusel angestellt und später Leiter desselben wurde, entnahm den Schulakten Berichte und Beurteilungen, die den Schüler Fritz Wunderlich betrafen. Er hat diese folgender­maßen zusammengefügt:

Fritz Wunderlich

Fritz Wunderlich, geb. am 26. 9. 1930 in Kusel, trat am 18. 9. 1941 in die damalige Staatliche Oberschule für Jungen ein. Schon das Gutachten, das für den Übertritt von der Volksschule vorgelegt wurde, schilderte ihn als einen gutmütigen, kameradschaftlichen, sehr offenen, strebsamen Jungen und hebt seine Gewandtheit und Einsatzbereitschaft im Sport hervor. Seine Auffassungsgabe wird als „sehr gut“ bezeichnet. Neben seiner Phantasie und Sprachgewandtheit fiel schon damals seine besondere Neigung für Musik auf. Seine Mutter, eine ausgezeichnete Geigerin, die erst recht nach dem Tode ihres Mannes, eines musikalisch talentierten Kapellmeisters, in recht bescheidenen Verhältnissen lebte, so daß sie in ständigem Kontakt mit den Fachlehrern ihres Sohnes dessen „erfreuliche Leistungen“ beobachten konnte, hatte er in diesem Fach immer recht gute Noten. In der allgemeinen Beurteilung wird immer wieder seine musikalische Begabung hervorgehoben.

Als nach dem Krieg – nach fast einjährigem Schulausfall – der Unterricht wieder aufgenommen wurde, konnte aus Mangel an Lehrkräften nicht einmal die Hälfte der Fächer planmäßig erteilt werden. Trotzdem kam Fritz gut mit. In seinem Zeugnis aus der Obersekunda wird eine länger Erkrankung des „ganz gut begabten“ Schülers erwähnt. Die allgemeine Not hatte ihn schon während der Schulzeit gezwungen, in Tanzkapellen mitzuspielen und so halbe Nächte zu opfern, was bei der allgemeinen Ernährungslage eine schwere gesundheitliche Belastung bedeutete. Glücklicherweise betreute ihn damals im Musikunterricht der bekannte Professor Dr. Müller-Blattau, der als Flüchtling aus der Universitätsstadt Königsberg in seiner Heimatstadt Kusel Unterkunft und am Gymnasium als Fachlehrer für Deutsch und Musik gefunden hatte. Auch er hatte die ausgezeichnete musikalische und stimmliche Begabung Wunderlichs erkannt und gefördert. Im Schulorchester und im Musikvereinsorchester blies er damals sein Lieblingsinstrument, das Waldhorn.

Professor Müller-Blattau riet Fritz zum Gesangsstudium. So verließ denn der Junge, seiner besonderen Begabung folgend, das Gymnasium und besuchte nach einer ersten musikalischen Ausbildung in Kaiserslautern die Musikhochschule in Freiburg i. Br.. Prophetisch mutet das vorliegende Gutachten von Professor Müller-Blattau vom Jahre 1950 an – über den damals 19-jährigen jungen Mann. Es heißt dort:

„Der Musiker Fritz Wunderlich verfügt über eine Naturstimme von gutem Sitz und natürlichem Schmelz, ferner über eine ungewöhnliche musikalische Begabung. Die Ausbildung in Kaiserslautern, der er sich unter großen äußeren Schwierigkeiten unterzog, hat ihn soweit gefördert, daß er die Mikrophonprüfung mit Erfolg ablegen konnte und im Rundfunk zu Nachwuchssendungen herangezogen wurde. Es wäre dringend erwünscht, daß ihm durch eine Ausbildungsbeihilfe die Möglichkeit gegeben würde, eine regelrechte Ausbildung durchzuführen ohne den schädlichen Zwang, Tanzmusik machen zu müssen. Es kann jetzt schon gesagt werden, daß Fritz Wunderlich nach abgeschlossener Ausbildung eine große Zukunft als Sänger hat.“

Soweit der Bericht von Herrn Dr. Gerlach.

Bild vom Gebäuder der Luitpoldschule

Es mag sein, daß doch die Schule den Grundstein legte, sich für mancherlei Fachgebiete zu interessieren. Dies bewies Fritz bereits als junger Bub. Mit primitiven Gegenständen richtete er sich ein Fotolabor ein. Während des Krieges bekam man ja kein Material, um notwendige Dinge herzustellen. Für Fritz war das alles kein Problem. Mit wachen Augen suchte er sich alles zusammen, was er für seine Experimente brauchte. Er fotografierte gern und entwickelte seine Bilder selbst. Sein Fotolabor glich der Kammer eines „Dracula“.

Für die Mutter fabrizierte er ein Telefon, damit er vom oberen Stockwerk aus mit ihr telefonieren konnte. Die alte Standuhr machte er zum „Wecker“. Auf dem nahegelegenen Gelände der Molkerei fand er Aluminiumstreifen (mit denen man Sahnebecher zuschweißte). Er befestigte einen solchen Streifen am Zifferblatt der Uhr und verband ihn mit einem dünnen Draht und einer Klingel. Den Aluminiumstreifen konnte man zur gewünschten Weckzeit verschieben, und wenn der Uhrzeiger den Streifen berührte, tat die Klingel mit genauer Pünktlichkeit das ihrige.

Unmöglich, alles zu erzählen, auf welche Art und Weise Fritz seine Ideen zu Tage brachte, oft zum Ärgernis der Mutter, denn man mußte höllisch aufpassen, daß man an den im ganzen Haus verteilten Leitungen und Verbindungsdrähten nicht hängen blieb; und von der Unordnung, die seine „wissenschaftlichen Versuche“ hinterließen, ganz zu schweigen.

Krieg

Der zweite Weltkrieg. – Auch wir hatten alle darunter zu leiden, besonders durch die Fliegerangriffe, die durch keine Vorwarnung gemeldet werden konnten. Kusel liegt (zu) nahe an der französischen Grenze.

Fritz hatte eine große Angst davor. Er half einem Bekannten, einen Stollen in einem dafür geeigneten Abhang zu bauen. Diese Tätigkeit war ihm Hilfe, seine Angst zu überwinden. Wir erlebten einen Angriff eines kleinen amerikanischen Bombengeschwaders. An diesem Tag wollten wir alle zusammen zu Mittag essen in meiner Wohnung, die in der Nähe der Stelle lag, wo Fritz den Stollen ausgraben half. Unsere Mutter war auf dem Weg zu mir und wurde unterwegs von dem Bombenangriff überrascht. Sie flüchtete in ein größeres Haus und wurde dort mit anderen Schutzsuchenden verschüttet. Mein Bruder war zur gleichen Zeit in meiner Wohnung und rannte, nachdem die Bomben gefallen waren, ins Freie. Es war für mich ein Wunder, daß beide, Mutter und Sohn, in diesem Durcheinander zueinander gefunden hatten.

Jedenfalls – er brachte unsere Mutter zu mir, wir waren überglücklich wieder beisammen zu sein. Es war mühsam, Geröllmassen, Staub, Sand und Steine aus Mutters Kleidern und Haaren zu entfernen. Dankbar stellten wir fest, daß sie keinerlei Verletzungen erlitten hatte. Ein Türbalken hatte über ihr eine Art Dach gebildet und die herabstürzenden Mauern von ihr ferngehalten.

Seitdem verbrachte Fritz viele Stunden in einem Luftschutzkeller eines Privathauses. Er nahm sich sein Essen mit, und während der Trostlosigkeit des Aufenthalts im Keller ritzte er in seine Essens- und Getränkebehälter (Aluminiumkessel und Feldflasche) und alles, war er mit sich nahm, seinen Namen ein. Wenn er gewußt hätte, daß uns dies alles heute als liebe Andenken an ihn geblieben sind!

Aber trotz Kriegswirren und Angst vor Fliegerangriffen spielte Fritz wann und wo er konnte mit seinem kleinen Akkordeon, sang dazu lustig und fidel; und der Fußball kam auch nicht zu kurz.

Kurz vor Kriegsende kam dann der Befehl in Mutters Haus, daß Fritz sich zum Abtransport an die nahegelegene Front, also zum Schanzen bereithalten sollte. Man wußte, daß dies ein letzter verzweifelter Versuch war zu retten, was man für rettbar hielt und somit alte Männer und junge Buben, unter ihnen vierzehn- und fünfzehnjährige, nicht schonte.

Bis zum Tage des Einrückens waren es für uns alle qualvolle Stunden. Als es soweit war, packte Mutter seinen Rucksack. Fritz nahm sein kleines Akkordeon, und Mutter und Sohn gingen zum Bahnhof. Wie beiden ums Herz war? Es gibt wohl keine Worte dafür!

Der Abschied kam – Fritz stieg in den Transportzug, der sich langsam in Bewegung setzte; und dann – unsere Mutter holte ihren Sohn mit aller ihr verfügbaren Kraft und allem Mut aus dem Zug und nahm Fritz wieder mit heim.

Am nächsten Tag lag unter der Haustür ein Zettel, der von dem damaligen Oberscharführer geschrieben war. Fritz mußte ja notgedrungen der HJ angehören. Es war strengste Bestrafung angedroht. – Die darauffolgenden Tage waren mit großer Angst erfüllt.

Es hatte keine Bestrafung gegeben. Gibt es einen Schutzengel? – In den allgemeinen Kriegswirren geriet manches in Vergessenheit.

1945 – Die Amerikaner besetzten die Pfalz. Ein großes Fragezeichen stand über unser aller Schicksal.

Mein Mann war damals als Soldat in Rußland. Er war Mitglied der NSDAP, und ich fürchtete, darunter leiden zu müssen. Deshalb verbrachte ich diese kritischen Tage mit meinen Kindern, zwei und sechseinhalb Jahre alt, bei meiner Schwägerin, die in einem benachbarten Ort von Kusel wohnte. Dort war ein alter Kalkstollen, und man hatte vor, sich beim Einzug der Amerikaner darin zu verstecken oder bei eventuellen Kämpfen dort Schutz zu suchen.

18. März 1945 - der Konfirmationstag meines Bruders

Stadtkirche in Kusel

Unsere Mutter hatte von Eltern ihrer Schüler u.a. den Konfirmationsanzug für Fritz erworben, kurzum alles, was ein Konfirmand braucht. Für die Feier konnte sie ebenfalls Wurst, Fleisch, Brot und Kuchen besorgen, und wir hatten vor, diesen Tag so festlich wie möglich zu begehen. Am Abend zuvor hörten wir, daß unsere Truppen im Rückmarsch seien und die Amerikaner das nahegelegene Baumholder besetzt hätten.

Wir wurden von alledem überrascht. Da ich ja nicht in Kusel war, konnte ich mit unserer Mutter auch keinerlei Vereinbarungen ausmachen, wo wir uns treffen sollten. Telefon hatten wir keines, und so warteten wir alle getrennt voneinander mit großer Sorge auf den nächsten Tag.

Gegen fünf Uhr früh, am Morgen des 18. März, klopfte es am Fenster des Zimmers, in welchem ich mit den Kindern schlief. Es warten Mutter und Fritz. Sie hatten sich kurz entschlossen auf den Weg gemacht und kamen zu Fuß zu mir und den Kindern. Die Lebensmittel, die für die Konfirmationsfeier bestimmt waren, hatten sie in einer Tischdecke verpackt, aber den Konfirmationsanzug und alles andere daheim gelassen. Was tun? Natürlich stand die Angst über uns, waren jedoch froh, daß wir alle zusammen sein konnten. – Sollten wir nicht an der Einsegnung meines Bruders teilnehmen? Es schien fast so.

Kurz entschlossen holte ich aus dem Koffer, den ich mitgebracht hatte und in welchem sich auch Kleider meines Mannes befanden, dessen schwarze Hose seiner Eisenbahneruniform, ein weißes Hemd, dunkelblaue Uniform­krawatte, einen schwar­zen Rock und Schuhe. Fritz hatte fast die Größe meines Mannes, und es paßte alles einigermaßen.

Ich beruhigte unsere Mutter – sie blieb bei den Kindern. Fritz und ich liehen uns von meiner Schwägerin zwei Fahrräder und machten uns auf den Weg nach Kusel zur Stadtkirche. Die Strecke war un­gefähr vier Kilometer weit. Man wird mich vielleicht für überaus sentimental halten: Mir war, als sei unsere Handlungsweise von un­sicht­barer Hand gelenkt worden.

Fritz hatte Angst vor Flieger­angriffen, und ich muß gestehen: ich nicht weniger. Wir fuhren beide ruhig und furchtlos mit unseren Fahrrädern die Hauptstraße entlang, bis wir in das Gedränge der deutschen Soldaten gerieten, die sich bereits auf dem Rückmarsch befanden. Wir mußten zu Fuß weitergehen.

Kirchenfenster

Es war ein großes Durcheinander. In der Ferne hörte man die Einschläge der Granaten; aber wir setzten unseren Weg unbeirrt fort. Bei der Kirche angekommen stellten wir unsere Räder ab und betraten die bis zum letzten Platz besetzte Kirche. Mein Bruder ging zu seinen Kameraden, und ich bekam noch einen Platz am Seiteneingang.

Nun – etwas zur Ruhe gekommen – war ein großes, zufriedenes Glücklichsein in mir: Ich durfte meinen Bruder zu Gottes Altar bringen, ihn segnen lassen. Ich fühlte eine gute, ehrliche Geschwisterliebe in diesem Augenblick und danke Gott von ganzem Herzen noch heute dafür, daß mir dieses vergönnt war.

Während der Predigt des Pfarrers schlug eine Granate in einen nahegelegenen Berghügel ein, die die Kirchentür aufspringen ließ. Es wurde etwas unruhig in der Kirche, aber der furchtlose Prediger beendete seine Predigt in erstaunlicher Ruhe. Anschließend segnete er alle Konfirmanden ohne Hast in feierlicher Zeremonie ein.

Nach dem Gottesdienst fuhren wir einen anderen Weg zurück zur Mutter und zu den Kindern. Unterwegs begegneten wir deutschen Soldaten, die uns den Rat gaben, daheim zu bleiben und nicht zu fliehen.

Dann krochen wir alle, meine Schwägerin mit ihren Kindern inbegriffen, in den alten Kalkstollen. Wir warteten mit unruhigem Herzen, was nun auf uns zukommen würde.

Der Aufenthalt in den niedrigen Gängen des Stollens – man konnte kaum aufrecht stehen – war qualvoll, und wir atmeten erleichtert auf, als die Parole bekannt wurde, daß alles vorbei sei. – Vorsichtig krochen wir ans Tageslicht. Was ich empfand? Die Frühlingssonne konnte in mir nicht, wie sonst, die Hoffnung auf den Beginn neuen Lebens wohltuend aufleuchten lassen. Die Angst vor den folgenden Tagen und Monaten ließ dies nicht zu.

Im Laufe des Tages nahmen wir, ein jeder von uns, unsere Habseligkeiten und begaben uns in unsere Wohnungen. Erschöpft, wie wir alle waren, dachte niemand mehr an die ursprünglich geplante Familienfeier. So endete der Konfirmationstag meines Bruders, der trotz großer nervlicher Belastung eines jedoch für mich beinhaltete: Gottes Willen gerecht gewesen zu sein. – Ich glaube, daß Fritz von ähnlichen Gedanken beseelt war.

Die Nachkriegszeit

Die Amerikaner rollten mit ihren Panzern dem Rhein zu. Weitere Kämpfe mit deutschen Soldaten gab es in unserer Gegend keine mehr.

Die darauffolgenden Monate und Jahre waren ausgefüllt mit der Sorge um unser aller Durchkommen. Wir mußten mit vielen Schwierigkeiten fertig werden – wie so viele Menschen in dieser Zeit.

Kusel wurde vorwiegend von französischem Militär besetzt. Es gab Zwischenfälle mancherlei Art. So mußte ich mit meinen Kindern nachts vor einem betrunkenen amerikanischen Soldaten aus dem Haus fliehen. Er trommelte solange mit seiner Maschinenpistole an unsere Haustür, bis wir keinen anderen Ausweg sahen als den der Flucht. Die jüngste Schwester meines Mannes, die im gleichen Haus wohnte und ebenfalls zwei Kinder hatte, floh mit mir. – Hier muß ich meiner Schwiegermutter ein Denkmal setzten. Mutig ließ sie den wütenden Trunkenbold zur Haustür herein, während wir alle durch eine andere Tür vor ihn fliehen konnten. Wir bekamen Hilfe von einem amerikanischen Offizier. Der Eindringling wurde verhaftet. Meine arme Schwiegermutter war von ihm verschont geblieben. Er hatte im ganzen Haus nur nach der „daughter“ gesucht.

Unsere Mutter und ich mußten in dieser Zeit oft in französischen Kasinos Tanzmusik spielen. Obwohl wir auch dadurch viel Unangenehmes in Kauf nehmen mußten, war es doch eine Bereicherung unserer ärmlichen Ernährung. Wenn ich alle diese Erlebnisse überdenke: Gott hat uns nie allein gelassen.

Mein Bruder, der in den Entwicklungsjahren seines jungen Körpers unter ständigem Hunger litt, ertrug ihn sehr geduldig und ließ sich trotz allem seine Fröhlichkeit und Unternehmenslust nicht nehmen.

Unsere Mutter versuchte – so gut wie möglich – Schlimmes fernzuhalten. Ihr Organisationstalent bewährte sich besonders darin, Lebensmittel herbeizuschaffen. Diese wurden auch glücklicherweise von Eltern der Schüler angeboten, und sie nahm gern die weiten Wege in Kauf, um mit dem Handwagen Kartoffeln, Mehl und anderes mehr abzuholen. Wenn Fritz sie dabei begleitete, setzte er sich am Dorfeingang an den Straßenrand und wartete, bis Mutter zurückkam. Seine Scham darüber, sich mittels betteln Lebensmittel zu beschaffen, war größer als sein Hunger. Ich glaube, er war darin so feinfühlig, daß er lieber verhungert wäre, als betteln zu gehen. Ich war froh, daß Mutter ihm dieses abnehmen konnte.

Wie überaus mächtig mein Bruder von einem feinfühligen und gemütvollen Wesen ausgefüllt war, bezeugt folgende Begebenheit:

Mein Mann besaß ein Fahrrad, fast neu, und er war sehr stolz darauf. In der damaligen Zeit war dies eine Rarität. Fritz lieh sich das Rad von mir, er wollte eine Radtour machen. Unterwegs wurde es ihm gestohlen. Wie mir Mutter später erzählte, war seine Verzweiflung darüber schrecklich groß. Erst am Abend kam er heim, unsere Mutter starb bald vor Angst um ihn. Er hatte den ganzen Tag im Wald gesessen und sich nicht heimgetraut. Mein Mann war noch in Rußland. Und der Gedanke, dieser würde über den Verlust seines Fahrrades unglücklich sein, war für Fritz schwer zu verwinden. Später, als mein Mann aus der Gefangenschaft heimkam, befreiten verständnisvolle Worte Fritz von allem Schuldgefühl.

Ausbildung

Über Fritz’s Schulzeit berichtete bereits Herr Dr. Gerlach. Die Frage einer Berufs­aus­bildung stand offen. Mutter bemühte sich um eine Lehrstelle für ihn beim Landratsamt. Außerdem legte er eine Aufnahmeprüfung am Lehrerseminar in Kaiserslautern ab. Er fand jedoch keine Freude an einem solchen Studium. Die Zusage vom Landratsamt, die ihm eine Ausbildung versprach, die Beamtenlaufbahn einzuschlagen, versteckte er vor der Mutter unter einem Notenstapel. Später beichtete er ihr das.

Bild von der Band Hutmacher mit Fritz Wunderlich

Sein ganzes Interesse galt der Musik. Eine Tanzkapelle gab ihm die Möglichkeit zu musizieren. Er spielte Akkordeon und Waldhorn und fühlte sich unter den acht bis neun Musikerkameraden wohl – bis die Begegnung mit Professor Müller-Blattau, der durch die Kriegswirren nach Kusel ver­schlagen worden war, eine Wende in seinem Leben herbeiführte. Außer Professor Müller-Blattau war noch eine Gesanglehrerin nach Kusel gezogen, die den evan­ge­lischen Kirchenchor leitete. Professor Müller-Blattau hatte einen Madrigalchor gegründet. In beiden Chören sangen Fritz und ich mit.

Von der Schule her – von Professor Müller-Blattau schon erkannt – verwies dieser meinen Bruder an die Gesanglehrerin, die jedoch bereits nach den ersten Unter­richtsstunden begeistert war und ehrlich bekannte, daß sie ihn nicht mehr unterrichten könne, da er über­durch­schnittlich begabt sei.

Was nun folgte, war der Beginn eines Weges, der stufenweise einen jungen Menschen zu einem welt­berühmten Mann führen sollte.

Fritz Wunderlich auf dem Fahrrad

Fritz suchte sich eine Gesanglehrerin in Kaiserslautern. Das Geld war knapp, und um Fahrgeld zu sparen – die Entfernung von Kusel nach Kaiserslautern beträgt 46 km -, bastelte er sich ein altes Fahrrad mit Vollgummibereifung, und er fuhr wöchentlich ein- bis zweimal die beinahe 100 km (hin und zurück) zum Unterricht. Viele Gesangstunden bekam er dort nicht.

Freiburg i. Br. wurde ihm zum Musikstudium empfohlen. Um dieses finanzieren zu können, sah unsere Mutter keinen anderen Ausweg, als ein Darlehen aufzunehmen. Der damalige Landrat bewilligte ihr auch eine kleine Summe, die sie dann später zurückzahlte. Sie mußte sogar einen Bürgen besorgen.

Außer dieser geliehenen Zuwendung bekamen Mutter und Fritz keinerlei Unterstützung von seiner Heimatstadt! – Diese Äußerung mag man mir übelnehmen oder nicht – ich versuche nur, diese Biographie so wahrheitsgetreu wie möglich zu gestalten.

Nach dem Tod des weltberühmten Fritz Wunderlich tauchten da Mäzene auf, die nie etwas für ihn getan hatten, weder finanzieller noch einer anderen protegierenden Art und Weise.

Mein Bruder arbeitete sich – unterstützt durch die Opferbereitschaft unserer Mutter – mit großem Fleiß und begnadetem Wollen zu einer großen Künstlergestalt empor. Daran war allenfalls noch Gottes Wirken beteiligt, der ihn dafür auserwählt hatte.

Sein letzter Geburtstag, den er daheim feierte, bevor er sein Studium in Freiburg begann, ist mir als einer der fröhlichsten Tage meines Lebens in Erinnerung geblieben. – Wenn Fritz bei Tanzveranstaltungen mitspielte, kaufte er sich stets Waffelbruch. Es waren Waffelreste, die damals in bunten Tüten an Kirmesbuden verkauft wurden. Seine Musikerkameraden, die ihm zum Geburtstag ein Ständchen spielten, brachten ihm als Geschenk eine Großpackung von 100 Waffelbruchtüten mit. Die entlockte Fritz, aus dem Stehgreif „Die Waffelbruchoper“ zu komponieren. Jeder der Musiker hatte ja sein Instrument dabei. Fritz setzte sich ans Klavier und dirigierte die einzelnen Einsätze. Was da an Text und Melodie entstand, war voller Humor und einmaliger Komik – heute wäre das fernsehreif gewesen. Dem Klarinettisten liefen während des Spielens die Tränen über sein Instrument. – Ich habe bedauert, daß man das nicht mittels Tonband aufgenommen hat.

In Freiburg fand mein Bruder die Möglichkeit, sich ganz und gar dem hinzugeben, was ihn von frühester Kindheit beseelten – Musik und nochmals Musik.

Fritz Wunderlich mit Band Die_flotten_Fuenf

Trotz Heimweh, das ihn sehr plagte, war er bis zur Selbst­aufgabe strebsam und – glücklich. Zu Beginn der Studienzeit ver­diente er sich durch Musizieren in einer kleinen Studenten-„Band“ ein paar Mark zusätzlich, um Mutter zu entlasten.

Aber bald bekam er von staat­licher Seite – aufgrund seiner außer­­ge­wöhn­lichen Begabung – ein Stipendium, und so konnte er sich, sozusagen bar materieller Sorgen, ganz und gar seinem Studium widmen. Seinen Weg, den er nun weiterging: Ich brauche ihn nicht zu schildern – die unzähligen Schall­platten­auf­nahmen, Nachrufe usw. legen ein beredtes Zeugnis ab.

In meinem Erinnern möchte ich mich nun nur noch dem jungen, vitalen Manne widmen, der uns Erlebnisse schenkte, die unser aller Leben unsagbar gemacht haben – und noch…..

Musikstudium in Freiburg

Die Nachkriegsjahre verlangten von uns äußerste Sparsamkeit. Die Lebensmittel, besonders Fleisch, waren noch rar, und so waren wir froh, wenn wir bei der städtischen Freibank Fleisch kaufen konnten. Mein Mann kannte den Metzger, der dort arbeitete und bekam immer Tips, wenn verunglücktes Vieh, also ansonsten gesund geschlachtetes Vieh, angeliefert wurde. So konnte unsere Mutter an Fritz regelmäßig ein Paket mit selbst gebratenem Hackbraten schicken, was seinem stets hungrigen Magen sehr gut tat. Eines Tages aber kam von Fritz ein Dankesbrief an die Mutter mit der Bitte, doch keinen Hackbraten mehr zu schicken, sondern etwas anderes, sein Zimmergenosse könne jetzt keinen Hackbraten mehr sehen, geschweige denn essen. – So war er: ein galanter Diplomat.

Ein anderes Mal kam ein Telegramm aus Freiburg, was in der damaligen Zeit schon etwas Außergewöhnliches war. Die Gebühr dafür war für Fritz’s Verhältnisse gewiß zu teuer anzusehen; und unsere Mutter getraute sich kaum, das Telegramm zu öffnen. Sie befürchtete, es könne etwas Schlimmes passiert sein. Der Inhalt des Telegramms: „Habe Radio gewonnen, Dein überglücklicher Bub!“ Das Radio war ein kleiner Volks­empfänger, wie er in den 40er und 50er Jahren hergestellt wurde. Fritz bekam ihn als tausendster Kunde eines Warenhauses, als er sich ein Hemd kaufte.

Die jungen Menschen in der heutigen Zeit werden nicht verstehen, welche Freude dieses „Ereignis“ im Herzen meines Bruders hervorrief. Und er mußte diese mit der Mutter teilen. Seine Charaktereigenschaft, die Demut und Dankbarkeit reichlich beinhaltete, trat immer wieder in den Vordergrund.

Erinnerungen

Wenn er in den Sommerferien nach Kusel kam, war das für meine beiden Söhne eine schöne, lustige Zeit. Fritz ersann immer wieder, stets Außergewöhnliches zu tun oder zu basteln.

Es waren Herbstferien. Fritz wollte unbedingt einen riesengroßen Drachen bauen. Unsere Buben und er schafften das dafür notwendige Material von überall herbei: große Bogen Papier, Holzlatten, eine Menge Kode – ich weiß nicht mehr, was sonst noch alles. Auf dem Fußballplatz wurde der Drachen zusammengebaut. Der große Augenblick des Aufstiegs kam, die Spannung war riesengroß. Frage, ob sich das Gebilde wohl in die Höhe bewegen würde? Dies tat es auch – bis die Eigenwilligkeit des großen Vogels der ureigenen Kraft des Windes trotzte und mit schrecklichem Getöse auf dem Boden zerbrach.

In den Winterferien bauten sie sich aus alten Skiern, zwei Rodelschlitten und Brettern einen großen Rodelschlitten. Als das Vehikel fertig war, zogen sie dieses einen steilen Weg hinauf und bestiegen es zu viert. Mit lautem Hallo ging die Fahrt talwärts bis zum Wegende – leider nur zu kurz; das mühsam zusammengebaute „Kunstwerk“ brach mit der ganzen Gesellschaft zusammen. Zerknirscht kamen sie heim, ein jeder mit einem Teil ihres „patentreifen“ Fahrzeugs unter dem Arm. – Ja, ja – man mußte somit auch Grenzen der eigenen Befähigung hinsichtlich „Erfindens“ erkennen.

Diese simplen Erlebnisschilderungen mögen manchem Leser langweilig erscheinen oder von ihm als uninteressant empfunden werden. Dem möchte ich entgegenhalten: Für uns war mein Bruder in jeder Beziehung ein Geschenk, das unseren einfachen Lebensrhythmus bereicherte. Fern von all den neuzeitlichen Einflüssen jeglicher Massenmedien, mit denen die Menschen unserer Zeit überflutet werden, erlebten wir durch seine begnadete Fähigkeit, Menschen glücklich machen zu können, echte unverfälschte Freude, die bis heute in unserer aller Herzen nachklingt und durch nichts zu ersetzen ist.

Nochmals zum Studenten in Freiburg. – Fritz arbeitete sich Stufe um Stufe nach oben. Rundfunk­übertragungen brachten seine Stimme an die Öffentlichkeit und ließen Menschen aufhorchen. Die Sendezeiten, in denen seine Lied-Aufnahmen gebracht wurden, wurden von den Hörern anderen Sendungen gegenüber bevorzugt; und er sang sich somit – gleichsam kometenhaft – in die Herzen aller, die ihn hörten.

In Freiburg bestieg er oft den Turm des Münsters, setzte sich in eine der Turmluken, die den Blick nach Westen freigab, damit er in dieser Richtung die Heimat erahnen konnte: Dort textete und kom­ponierte er das „Kuseler Lied“.

Notenblatt vom Kusellied

Lange lag die Urschrift in der Schublade des Schreibtisches der Mutter. Nach deren Tod fand sie mein Mann beim Ordnen der Nachlaßpapiere. Er gab sie an Fritz zurück.

Kurz vor seinem Tod wurde dieses Lied, gleichzeitig mit noch weiteren Liedern, in die letzte Serie seiner Schallplattenaufnahmen eingefügt. Sein schlichtes Lied, das seine Verbundenheit mit der Heimat bezeugte, wurde für viele ein Geschenk. Fast verwundenes Heimweh wurde neu empfunden und fand begeisterte Verehrer, sogar im Ausland, besonders in Amerika.

Eine fast kindliche Liebe, die ihn mit seinem Geburtsort verband, besonders aber mit seiner Mutter, war der Grund, Kusel manch wertvolles, unvergeßliches Erlebnis zukommen zu lasse.

Mein Bruder bekam in relativ kurzer Zeit enge Verbindung zu berühmten Künstlern und Dirigenten. Das große Rundfunk­orchester wurde ihm so vertraut wie einst seine Musiker­kame­ra­den. So kam es denn auch zu vielen unvergeßlichen Ver­an­stal­tun­gen, die er seinem Heimat­städtchen vermitteln konnte. Eine kurze Besprechung mit dem da­ma­ligen Bürger­meister, der nur seine Genehmigung dazu geben brauchte, und Fritz brachte Künst­ler nach Kusel, die sonst nie ge­kom­men wären.

Ich erinnere mich gut an einen großen „Bunten Abend“. Mitwirkende waren u.a.: das große Südwestfunk-Orchester unter der Leitung von Emmerich Smola, ferner Willy Schneider, ein berühmter Harfenist, Komiker usw. Die Turnhalle, in der die Veran­staltung stattfand, faßte die Besucher nicht. Fritz wirkte natürlich auch mit. Es war eigentlich sein erster Auftritt in Kusel.

Weniger schön war die Tatsache, daß Mutter für diesen Abend von der Stadtverwaltung keine Freikarten zugesandt bekam und sie durch eigenes Bemühen für sich und uns die Karten besorgen mußte.

Alte Turnhalle in Kusel

Als ich nach Beendigung der Vorstellung meinem Bruder ein Blumenbukett überreichen lassen wollte, sollte dies nicht geschehen – man hätte für die anderen Künstler ja auch keine Blumen besorgt, was mich aber nicht davon abhielt, die Blumen Fritz überreichen zu lassen. Die Stadtväter hatten sich aber während der Vorstellung bemüht, irgendwo Blumen aufzutreiben. Ein paar Nelken wurden noch erstanden. Man übergab sie dem Dirigenten Emmerich Smola, der sie dann einzeln an die Solisten verteilte.

Diese Pannen passierten – so meine ich -, weil die zuständigen Arrangeure der Stadt­verwaltung solch großen Ereignissen damals nicht gewachsen waren und sozusagen dem hilflos gegenüberstanden. – Es liegt mir nicht daran, die Heimatstadt meines Bruders so zu schildern, als sei diese unwürdig gewesen, einen berühmten Mann „beherbergt“ zu haben; aber ich möchte doch konsequent auch Begebenheiten schildern, die sich hinter den Kulissen abspielen können, zumal wenn jemand irgendwo zu Berühmtheit geworden ist.

Obwohl mein Bruder wirklich keine Ursache hatte, seiner Heimatstadt für irgend eine Förderung dankbar sein zu müssen: Er liebte seine Kuseler, und er kam auch noch gern – bereits als weltberühmter Mann – um in einem Konzert zu singen. Die Volkshochschule war dann das verbindende Glied. Seine Gage ließ er jedesmal der Mutter zukommen. Ihr Geburtstag war in erster Linie der Anlaß, daß solch wunderbaren Konzerte in Kusel geboten wurden.

Fritz Wunderlich mit Bekannten

Mancher Leser dieser kurzen Biographie wird mich vermutlich verdächtigen, die Heimatliebe meines Bruders als „über­trieben“ darzustellen; das möchte ich keinesfalls. Es gab viele Menschen, die ihm seine Heimatstadt wert machten, denen er sich in besonderem Maße zu­wandte, stets verbunden fühlte. Bei einem älteren Jagdaufseher fand er sozusagen „Vaterersatz“. Da waren Freunde, deren ehrliche Kameradschaft seinem berühm­ten Namen standhielt.

Er wäre ganz gewiß auch jenen dankbar, die ihm in seiner Heimatstadt ein Denkmal errichteten. – Ich möchte die Frage an diejenigen richten, die dazu die Veranlassung gaben: Gilt dies auch der Liebe des berühmten Mannes zu seiner Heimat, der sich stets den einfachen, schlichten Menschen ebenfalls verbunden fühlte?

Ich hoffen, daß dem so ist!

Ich bin vermutlich weit abgeglitten von der Schilderung, die einen Teil gemeinsamen Lebens, Erlebens mit Fritz, meinem Bruder, betrifft. Sein Werden, sein Emporsteigen in eine Welt, in der ein gereifter Mensch in seinem Künstlerdasein lebte, konnte ich nur noch aus der Ferne beobachten.

Gerne kam er heim zur Mutter, zu uns nach Kusel, so oft es ihm möglich war, um es in seiner damals noch wohltuenden Abgeschiedenheit zu genießen. Sein Kommen glich dem Aufgang der Sonne, sein Fortgang deren Untergang. Wir erlebten die geselligsten, humorvollsten Stunden mit ihm, und niemand wurde in seiner Gesellschaft müde, auch wenn wir noch so lange zusammensaßen.

Fritz Wunderlich

Was war nur aus dem ehemals kleinen „Fritzchen“ für ein wunderbarer Mann geworden! Seine Lebensfreude strömte nur so aus ihm heraus und übertrug sich auf jeden, der ihm begegnete, und er war übervoll von einer Vitalität, die quasi alles aus dem Weg räumte, was seiner Schaffenskraft hätte schaden können. Seine Fröhlichkeit war verbunden mit wohltuender Herzlichkeit, die ein ehrliches Gefühl erahnen ließ, das er seinen Mitmenschen ent­ge­gen­brachte. Wo er auch war – beruflich oder privat -, seine Gegen­wart verbreitete Freude und feinsinnigen Humor, der aber nie in un­ge­hörige Ausgelassenheit ausartete.

Im tiefsten Winkel seines Herzens schien jedoch ein Vorausah­nen verborgen gewe­sen zu sein von dem, was sein späteres Schicksal war.

Ich war manches Mal dabei, wenn er ganz plötzlich eine gesellige Runde verließ. In sei­nen Augen war eine tiefe Traurigkeit zu lesen, und er sagte leise: „Ja, ja – es ist alles so traurig.“ – Wenn ich ihn so erlebte, stieg in mir eine große Unruhe auf, und ich hatte ganz einfach Angst, es könne in seinem bisher so wunderbar gelenkten Leben eine Wende eintreten.

Um seiner Persönlichkeit eine endgültige Prägung zu verleihen: Fritz war ein Spielmann von Gottes Gnaden, der in Vollkommenheit und Schlichtheit, mit der Reinheit eines absoluten Hörens der Töne, den Menschen mitteilte, was mittels Musik überhaupt gesagt werden kann. Die komplizierteste Opernarie, die gottgeweihten Oratorien großer Komponisten – alter und moderner Zeit -. das einfache Lied, das alles war Ausdruck seiner Seele, die einfach alles, ja auch alles durchlebte und somit jede Komposition in nachfühlbarer Echtheit preisgab.

Ob ihm dies immer recht war? – Während eines Gesprächs mit ihm eröffnete er mir einmal: „Weißt du, wenn ich auf der Bühne stehe, muß ich ja immer meine Haut zu Markte tragen.“ – Ich glaube, man wird dies in Dankbarkeit anerkennen müssen.

Sozusagen als Abschluß dieser Biographie möchte ich ein Erlebnis schildern, das mir – in Erinnerung daran – immer wieder die Hoffnung schenkt, daß ein jeder Tod einen wunderbaren Neubeginn in sich bergen muß.

"Horch, die Lerche singt im Hain!“

Man erinnert sich: Auf der ersten Seite dieser Biographie erwähnte ich, warum ich diesen Titel – den der wunderbaren Romanze des Fenton aus: „Die lustigen Weiber von Windsor“ – als Überschrift eines Buches wählen würde.

An einem Maitag war mein Bruder zu Besuch in Kusel. Gegen Abend fanden wir uns zu einer kleinen Gesellschaft zusammen, und es ging – wie immer – lustig zu. Wir waren in einer Gastwirtschaft; und als dort Feierabend geboten wurde, wollten wir heimfahren. Es war eine herrliche, warme Mainacht, und der Himmel war klar. Plötzlich bekam Fritz den Einfall, zu einer kleinen, im nahen Wald gelegenen Gaststätte zu fahren. Es war eine Holzhütte, die den Namen „Adamshütte“ trug, und sehr idyllisch gelegen. Wir fuhren über die damals noch nicht mit Kasernen bebaute Anhöhe – am Rande Kusels – zur Waldhütte. Der Weg nach dort war umgeben von blühenden, schönen Sträuchern.

Die Hütte lag auf dieser Anhöhe, bewachsen von großen, alten Bäumen. Gemütlich saßen wir am geöffneten Fenster, ließen uns bewirten, und wie konnte es anders sein, Fritz war wieder mal der Unterhalter, der keine Müdigkeit aufkommen ließ.

So verging – fast unbemerkt – Stunde um Stunde, bis es allmählich Morgen wurde. Unsere Gespräche verebbten langsam, auch Fritz wurde stiller. Plötzlich stand er auf, ging zur Tür, und wir sahen ihn den Abhang hinuntergehen zu einer mächtigen alten Eiche, die in der Mitte des Tales stand. Er begann – das Gesicht der Sonne zugewandt – zu singen:

„Horch, die Lerche singt im Hain…“

Bild mit Fritz Wunderlich

Ich ging vor die Tür der Hütte, sah den einfachen Menschen unter dem ehr­wür­digen Baum, dessen wuchtige Äste zögernd die Strahlen der Morgensonne durch­ließen, und hörte ihn singen. Seine Stimme war durchdrungen von der Lebens­bejahung dieses zauberhaften Frühlings­morgens. Die ganze Kreatur im ihn herum schien ihm beizustehen, um das, was er in seiner Seele empfand, mitteilen zu können.

Dieses Lied nahm ich in mir auf, als sei es gerade erst jetzt – in diesem Augenblick – komponiert worden. Die herrliche Kulisse, das Jubilieren der Vögel, das leise Wehen des Morgenwindes – kein noch so gutes Orchester hätte den Sänger besser begleiten können. Es war ein einziges Gloria!

Keiner von uns sprach ein Wort, und das blieb auch so, als Fritz wieder bei uns war. Die Ergriffenheit hatte uns stumm gemacht. Wir fuhren – ein jeder von uns mit einer großen Andacht im Herzen – heim. Später habe ich meinen Bruder oft auf großen Opernbühnen erlebt, bei Kirchenkonzerten, bei Liederabenden und vielen anderen Darbietungen. All das war mir nur Ersatz für das, was mir an jenem Maimorgen geschenkt wurde.

Für mich ist die Erinnerung daran ein Hinweis, auf die Stimme des Schöpfers unserer Erde zu hören, auch wenn es noch so laut um uns herum wird. Lerchengesang zeugt von Freude und Jubel – dies hat mir mein Bruder hinterlassen.

Ich wünsche der ganzen Menschheit solche zukunftsweisenden Erlebnisse, um den Glauben daran nicht zu verlieren, daß es immer wieder Lerchen gibt, die Gott der aufgehenden Sonne entgegenjubeln läßt.

Sein Tod?…….Der Sturz von der Treppe – es steht da eine große Frage über diesem Ereignis, das mir die Glaubfähigkeit an den allmächtigen Gott zu nehmen schien.

Bild vom Grab

Ich ging vor die Tür der Hütte, sah den einfachen Menschen unter dem ehr­wür­digen Baum, dessen wuchtige Äste zögernd die Strahlen der Morgensonne durch­ließen, und hörte ihn singen. Seine Stimme war durchdrungen von der Lebens­bejahung dieses zauberhaften Frühlings­morgens. Die ganze Kreatur im ihn herum schien ihm beizustehen, um das, was er in seiner Seele empfand, mitteilen zu können.

Dieses Lied nahm ich in mir auf, als sei es gerade erst jetzt – in diesem Augenblick – komponiert worden. Die herrliche Kulisse, das Jubilieren der Vögel, das leise Wehen des Morgenwindes – kein noch so gutes Orchester hätte den Sänger besser begleiten können. Es war ein einziges Gloria!

Keiner von uns sprach ein Wort, und das blieb auch so, als Fritz wieder bei uns war. Die Ergriffenheit hatte uns stumm gemacht. Wir fuhren – ein jeder von uns mit einer großen Andacht im Herzen – heim. Später habe ich meinen Bruder oft auf großen Opernbühnen erlebt, bei Kirchenkonzerten, bei Liederabenden und vielen anderen Darbietungen. All das war mir nur Ersatz für das, was mir an jenem Maimorgen geschenkt wurde.

Für mich ist die Erinnerung daran ein Hinweis, auf die Stimme des Schöpfers unserer Erde zu hören, auch wenn es noch so laut um uns herum wird. Lerchengesang zeugt von Freude und Jubel – dies hat mir mein Bruder hinterlassen.

Ich wünsche der ganzen Menschheit solche zukunftsweisenden Erlebnisse, um den Glauben daran nicht zu verlieren, daß es immer wieder Lerchen gibt, die Gott der aufgehenden Sonne entgegenjubeln läßt.

Sein Tod?…….Der Sturz von der Treppe – es steht da eine große Frage über diesem Ereignis, das mir die Glaubfähigkeit an den allmächtigen Gott zu nehmen schien.